Apertus: Warum die Schweiz gerade die Zukunft der offenen KI definiert hat
AI & Automation

Apertus: Warum die Schweiz gerade die Zukunft der offenen KI definiert hat

Während die Welt über OpenAI, Google und Meta diskutiert, hat die Schweiz mit Apertus das erste vollständig offene Large Language Model veröffentlicht – einen Gegenentwurf zur Corporate AI.

Mehmet Gökçe
05.11.2025
5 Min Lesezeit

Apertus Header

Forschende der EPFL, ETH Zürich und des CSCS haben das grosse Sprachmodell Apertus entwickelt – es ist eines der grössten offenen LLMs und eine Basistechnologie, auf der andere aufbauen können. (Bild: EPFL, ETH Zurich, CSCS / Molinari Design)


Einführung

Während die Welt über die wachsende Dominanz von OpenAI, Google und Meta in der KI-Landschaft diskutiert, hat die Schweiz heute still und leise einen Paukenschlag gelandet. Mit Apertus haben ETH Zürich, EPFL und das Schweizerische Supercomputing-Zentrum CSCS das erste vollständig offene Large Language Model aus der Schweiz veröffentlicht – und damit einen Gegenentwurf zur Corporate AI vorgelegt, der weitreichende Konsequenzen haben könnte.

Was bedeutet "vollständig offen" wirklich?

Der Name Apertus – lateinisch für "offen" – ist Programm. Aber was unterscheidet dieses Modell von anderen vermeintlich "offenen" Alternativen wie Meta's Llama oder Mistral AI? Die Antwort liegt in einem fundamentalen Unterschied zwischen Marketing und echter Transparenz.

Während die meisten als "open source" beworbenen KI-Modelle lediglich ihre finalen Modellgewichte freigeben, macht Apertus wirklich alles transparent: die komplette Architektur, alle Trainingsdaten, die verwendeten Methoden und sogar die Zwischenstände des Trainingsprozesses. Es ist, als würde man nicht nur das fertige Auto bekommen, sondern auch die kompletten Baupläne, die Materialspezifikationen und ein Video des gesamten Produktionsprozesses.

Diese radikale Transparenz ist kein Zufall, sondern folgt einem bewussten Design-Prinzip. Wie Martin Jaggi, Professor für Maschinelles Lernen an der EPFL, erklärt: "Mit dieser Veröffentlichung möchten wir ein Musterbeispiel dafür geben, wie sich ein vertrauenswürdiges, souveränes und inklusives KI-Modell bauen lässt."

Mehrsprachigkeit als demokratisches Prinzip

Besonders bemerkenswert ist Apertus' Ansatz zur Mehrsprachigkeit. Das Modell wurde auf 15 Billionen Tokens aus über 1000 Sprachen trainiert, wobei 40 Prozent der Daten nicht-englischsprachig sind. Das mag auf den ersten Blick wie ein technisches Detail erscheinen, ist aber tatsächlich eine politische Aussage.

Die meisten großen Sprachmodelle sind stark englisch-zentriert, was kleinere Sprachen und Kulturen systematisch benachteiligt. Apertus durchbricht dieses Muster bewusst und inkludiert explizit unterrepräsentierte Sprachen wie Schweizerdeutsch und Rätoromanisch. Es ist ein Statement für sprachliche Diversität in einer zunehmend homogenisierten digitalen Welt.

Public AI vs. Corporate AI

Hinter Apertus steht ein größerer Gedanke: die Idee der "Public AI". Joshua Tan, Hauptverantwortlicher der Public AI Inference Utility, bringt es auf den Punkt: "Derzeit ist Apertus das führende öffentliche KI-Modell: ein Modell, entwickelt von öffentlichen Institutionen im Dienste des Gemeinwohls. Es ist der bislang stärkste Beweis dafür, dass Künstliche Intelligenz eine öffentliche Infrastruktur sein kann – wie Autobahnen, Wasserleitungen oder Stromnetze."

Diese Vision steht in direktem Kontrast zur aktuellen Realität, in der eine Handvoll privater Unternehmen die KI-Landschaft dominiert. OpenAI, Google und Meta kontrollieren nicht nur die leistungsfähigsten Modelle, sondern auch die Infrastruktur und die Nutzungsbedingungen. Ihre Modelle sind Black Boxes, deren Funktionsweise und Trainingsdaten Geschäftsgeheimnisse bleiben.

Compliance by Design: Europa zeigt, wie es geht

Apertus ist auch ein Beispiel dafür, wie europäische Werte in KI-Systeme eingebaut werden können. Das Modell wurde von Anfang an unter Berücksichtigung der Schweizer Datenschutzgesetze, des Urheberrechts und der EU KI-Verordnung entwickelt. Das ist mehr als nur regulatorische Compliance – es ist "Privacy by Design" für das KI-Zeitalter.

Die Entwickler haben besonderen Wert auf Datenintegrität gelegt: Das Trainingskorpus beruht ausschließlich auf öffentlich zugänglichen Daten, die gefiltert wurden, um Opt-out-Hinweise zu respektieren und personenbezogene Daten zu entfernen. Ein Ansatz, der in Silicon Valley eher als Hindernis denn als Feature betrachtet wird.

Die Schweizer Formel: Kollaboration statt Konkurrenz

Besonders interessant ist, wie Apertus entstanden ist. Anstatt dass einzelne Institutionen um Ressourcen und Aufmerksamkeit konkurrierten, haben sich die führenden Schweizer Forschungseinrichtungen zusammengetan. ETH Zürich, EPFL und CSCS haben ihre Expertise und Infrastruktur gebündelt – ergänzt durch über 10 Millionen GPU-Stunden auf dem Supercomputer Alps.

Diese Kollaboration wird durch strategische Partnerschaften mit der Privatwirtschaft verstärkt, allen voran Swisscom, die das Modell über ihre Swiss AI Platform verfügbar macht. Es ist ein Beispiel dafür, wie Public-Private-Partnerships in der KI funktionieren können, ohne dass öffentliche Interessen den privaten Profitmotiven untergeordnet werden.

Technische Exzellenz trifft gesellschaftliche Verantwortung

Mit 70 Milliarden Parametern in der größeren Version ist Apertus durchaus konkurrenzfähig mit kommerziellen Alternativen. Aber der wahre Wert liegt nicht in den rohen Performance-Metriken, sondern in dem, was das Modell repräsentiert: einen Beweis dafür, dass technische Exzellenz und gesellschaftliche Verantwortung sich nicht ausschließen müssen.

Imanol Schlag, technischer Leiter des Projekts, formuliert es so: "Apertus wurde als Beitrag zum Gemeinwohl entwickelt. Es gehört zu den wenigen vollständig offenen LLMs in dieser Größenordnung und ist das erste seiner Art, das Mehrsprachigkeit, Transparenz und Compliance als grundlegende Designprinzipien vereint."

Was kommt als Nächstes?

Apertus ist explizit als Basis-Technologie konzipiert, auf der andere aufbauen können. Thomas Schulthess, Direktor des CSCS, betont: "Apertus ist kein klassischer Technologietransfer von der Forschung zum Produkt. Vielmehr verstehen wir das Modell als Impulsgeber für Innovationen und als Mittel zum Ausbau der KI-Expertise in Forschung, Gesellschaft und Wirtschaft."

Die kommenden Swiss-AI-Weeks werden zeigen, was die Entwicklergemeinschaft aus diesem Grundstein macht. Hackathons und Fachveranstaltungen sollen demonstrieren, wie sich auf Apertus aufbauen lässt – von Chatbots über Übersetzungssysteme bis hin zu spezialisierten Anwendungen in Recht, Gesundheit oder Bildung.

Ein neues Paradigma?

Apertus könnte der Startschuss für ein neues Paradigma in der KI-Entwicklung sein. Wenn öffentliche Institutionen zeigen können, dass sie leistungsfähige, transparente und ethische KI-Modelle entwickeln können, verändert das die gesamte Diskussion um die Zukunft der Künstlichen Intelligenz.

Die Botschaft ist klar: Innovation muss nicht aus Silicon Valley kommen. Digitale Souveränität ist möglich. Und KI kann tatsächlich eine öffentliche Infrastruktur sein, die dem Gemeinwohl dient.

Wie Antoine Bosselut, Co-Leiter der Swiss AI Initiative, es ausdrückt: "Apertus zeigt, dass generative KI sowohl leistungsfähig als auch offen sein kann. Die Veröffentlichung von Apertus ist kein Endpunkt, sondern der Beginn einer Reise – ein langfristiges Engagement für offene, vertrauenswürdige und souveräne KI-Grundlagen für das weltweite Gemeinwohl."

Fazit: Ein Signal für die Welt

Apertus ist mehr als nur ein weiteres Large Language Model – es ist ein Statement. Ein Beweis dafür, dass öffentliche Institutionen durchaus mit Big Tech konkurrieren können, wenn sie ihre Kräfte bündeln und ihre Werte konsequent umsetzen. Es zeigt, dass "open source" mehr bedeuten kann als nur verfügbare Modellgewichte, und dass KI-Entwicklung auch anders gehen kann als in den abgeschotteten Laboren von OpenAI oder Google.

Ob Apertus tatsächlich den Beginn eines neuen Zeitalters der Public AI markiert, wird sich in den kommenden Monaten und Jahren zeigen. Aber eines ist bereits jetzt klar: Die Schweiz hat der Welt gezeigt, dass es Alternativen gibt. Und das allein ist schon eine Revolution wert.

Apertus ist verfügbar über Swisscom, Hugging Face und das Public AI Network. Mehr Informationen finden Sie auf der Website der Swiss AI Initiative.

Mehmet Gökçe

Mehmet Gökçe

Founder & CEO

Gründer von MEMOTECH mit über 26 Jahren Erfahrung. Spezialisiert auf E-Commerce-Lösungen und digitale Transformation für Schweizer KMU.

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